Welle
CASABLANCA ART SCHOOL. Schirn Kunsthalle, Frankfurt am Main, – .
Eine ornamentale Welle, poppig wie für ein Plakat im Stil der -er, wenn auch traditionell in Öl auf Leinwand gemalt vom Künstler und Lehrer Mohamed Melehi: Die ornamentale Welle bringt die Ausstellung über die Casablanca Art School auf den Punkt. Jetzt flattert die Welle als Fahne vor der Schirn, sie begründet das grafische Konzept der Einladungskarte, die sehr schön ist und deshalb auch schon vor Ausstellungsbeginn vergriffen ist. Und sie textet den Untertitel der Ausstellung: Die "neue Welle" Marokkos. Und das kunstpädagogische Angebot ab der 1. Schulklasse heißt: "Wellen und Träume".
Es finden sich noch mehr Wellen auf den ausgestellten Bildern. Die Welle ist ein gutes Symbol für das, was die Casablanca Art School ab den -ern erreichen wollte. Nach der Unabhängigkeit Marokkos und parallel zu den gesellschaftspolitischen Aufbrüchen in vielen anderen Ländern wollte die Kunstschule "bewegen". Wie der Ausstellungskurator Morad Montazami anführt: Die Haltung der Künstler um die Casablanca Art School war "doing art politically" – also die Kunst politisch machen im Sinne von Jean-Luc Godard. Ein Vorläufer der Schule bestand seit . wurde der Künstler Farid Belkahia Schuldirektor und öffnete die Schule für marokkanische und weibliche Personen. Weitere Künstler, auch der Wellen-Künstler Mohamed Melehi, waren Lehrende in der Schule. Gemeinsam lehrten sie nicht nur an der Schule, sondern trugen Kunst und Haltung nach außen. Sie schufen Wandgemälde auf Mauern mit den Studentinnen und Studenten. Hiervon sind Fotos in der Ausstellung zu sehen: Die modernen abstrakten ornamentalen Gemälde verbinden sich ausgesprochen dekorativ mit den traditionellen weißen marokkanischen Mauerwänden. Die auch "Casablanca-Gruppe" genannten Lehrenden organisierten Ausstellungen von Malerei im öffentlichen Raum wie die "Présence Plastique". Solche Kunstfestivals werden teilweise bis heute gefeiert, so das Kunstfestival Asilah Moussem Culturel, das von Mohamed Benaissa und Mohamed Melehi gegründet worden war. Auch Zeitschriften gaben die Künstler heraus, z. B. die Zeitschrift "Souffles", die 1972 verboten wurde. Mohammed Chabâa war 1972 einziger Grafiker von "Souffles" und wurde als marxistischer Aktivist verhaftet, so dass die Zeitschrift als Beispiel für "politische Kunst machen" gelten kann, nicht für "Kunst politisch machen".
In der Lehre verbanden sie die künstlerischen Techniken mit westlicher Kunstgeschichte aber auch der Lehre der traditionellen Handwerke. So verbanden Lernende und Lehrende die arabischen und Amazigh*-Traditonen mit abstrakter Kunst und überwanden die Grenzen von Kunsthandwerk und Kunst. Es gab eine Galerie, die die studentischen Arbeiten zeigte. Der Bauhaus-Künstler Herbert Bayer reiste seit nach Marokko und lernte Mohamed Melehi beim International Sculpture Symposium in Mexico City kennen. Seine Malerei veränderte sich unter marokkanischer Inspiration: "Ich kehrte zu Primärfarben und reinen geometrischen Formen zurück", schreibt Bayer, zitiert in der Ausstellung.
Die aktuelle Schirn-Ausstellung ist ein Beitrag zur Erweiterung des europäischen und nordamerikanischen Kunst-Kanons. präsentierte das Deutsche Guggenheim die marokkanische Künstlerin Yto Barrada in einer Ausstellung als "Artist of the year&qot;. Ihre Kunst reihte sich problemlos in diesen Kanon ein. Dies war ein Schritt hin zur Entdeckung der modernen und zeitgenössischen Kunstentwicklung außerhalb Europas und den USA, die meist dem internationalen Mainstream folgt, aber kleine, spannende, oft kulturell geprägte Variationen hinzufügen darf.
Die Ausstellung in der Schirn präsentiert nicht einen Blick auf diese außereuropäische Kunstentwicklung, sondern den Blick der Menschen aus den beteiligten Ländern. Kurator Montazami spricht von "huge influence" der Bewegungen in beispielsweise Iran, Ägypten, Irak und auf aus diesen emigrierte Menschen. zeigte das Haus der Kulturen der Welt in Berlin (HKW) die Ausstellung "Zeit der Unruhe. Über die Internationale Kunstausstellung für Palästina ".** Auch diese Ausstellung zeigte die vielfältigen Bezüge der Länder untereinander. Die Ausstellung in der Schirn beginnt ebenfalls mit einer Wand-Installation, die solche internationalen Bezüge zwischen den Ländern zum Thema hat. Seit gab es die Biennale of Arab Art im Museum für moderne Kunst in Bagdad, Irak, die von der General Union of Arab Artists organisiert war. ist die Casablanca Art School auch Thema in der Zentralausstellung der Biennale von Venedig. Und von bis gab es ein Residenzprogramm vom KW Institute of Contemporary Art (Berlin) und ThinkArt (Casablanca) und in Zusammenhang damit auch eine Ausstellung. Aus diesem Residenzprogramm werden Videos unten in der Rotunde der Schirn gezeigt: die "School of Walking&quor; des Künstlerduos Bik van der Pol (Lisbeth Bik und Jos van der Pol).
Mural-Workshops in der Rotunde mit Thekra Jaziri
Eine Welle hat die Schirn außerdem ausgesandt: Es gab eine Ausstellungseröffnung speziell für Kinder, und Kinder haben die Wände der Rotunde ausgemalt in einem Workshop mit der Künstlerin Thekra Jaziri vom bis .
Thekra Jaziri studierte an der Hochschule für Gestaltung in Offenbach und entwickelte dort ihre malerische Gestaltung von Räumen, bis sie begann, erste Arbeiten an Mauern im Außenbereich zu realisieren. Diese Wandgestaltung verbindet sie meist mit einem sozialen partizipativen Projekt mit Kindern (und manchmal mit Erwachsenen): Sie erstellt die Vorzeichnung, und die Kinder malen die Vorzeichnung aus – manchmal bezieht sie dabei die kleinen Zeichnungen und Gemälde der Kinder mit ein und vergrößert diese, manchmal entwirft sie die Wandgestaltung allein. Jaziris künstlerische Arbeit ist im praktischen Tun entstanden. So hat sie bei ihren Projekten bemerkt, dass die Kinder häufig überfordert sind, wenn sie großformatig malen sollen. Und gleichzeitig realisiert, dass auch Erwachsene gerne "ausmalen", wofür es schon einen eigenen Hobby-Buchmarkt gibt. Durch das Ausmalen sind die Kinder dann Teil des Projekts und haben am Kunstwerk mitgearbeitet, das dann prächtig und schön für einen langen Zeitraum zu sehen ist. Thekra Jaziris Wandgestaltungen finden sich an Bahnhöfen und anderen Flächen international und im Rhein-Main-Gebiet. Es sind sehr fröhliche, heimelige Motive, die diesen Orten den Schrecken oder die Langeweile nehmen.
Das Team um Laura Heeg, die in der Schirn den Bereich "Bildung, Vermittlung, Kunstpädagogik" leitet, hat die Bemalung der Rotunde als Erweiterung der Ausstellung konzipiert. So wird das Konzept der Casablanca Art School in die heutige Zeit und an den Ausstellungsort getragen: Murals, bemalte Wände. Die Bemalung der Rotunde ist auch von unten vor dem Schirn-Gebäude sichtbar, kostet also keinen Eintritt und ist Teil des öffentlichen Raums. An vier Tagen malen kleinere Gruppen von Kindern die Vorzeichnung von Thekra Jaziri mit Wandfarbe aus. Jaziri hat die Vorzeichnung in heller grauer Wandfarbe frei, nur mit kleinen Hilfsmitteln, auf die Rotunde-Wände der Schirn übertragen. Erstellt hat sie das Gemälde digital und sich dabei an den Formen orientiert, die die Künstlerinnen und Künstler der Casablanca Art School geschaffen haben und die in der Ausstellung zu sehen sind. Für die Bemalung der Rotunde wurden Horte und Kitas angeschrieben; die Kinder durften zwischen sieben und 13 Jahren alt sein. Es meldeten sich viele Gruppen, so aus Offenbach und dem Frankfurter Stadtteil Preungesheim, sowie auch das Internationale Kinderhaus im Bahnhofsviertel. Viele Kinder bleiben zu Hause, können mit den Eltern in den gerade begonnenen Schulferien nicht oder noch nicht verreisen. Ziel war es, gerade Kinder zu erreichen, die noch nie in der Schirn waren. Für die Kinder ist es "toll", solch ein Bild mitzumalen an dieser interessanten Architektur einer renommierten Kunsthalle. Viele lernen die Schirn dadurch erst kennen, waren vielleicht noch nicht mal in diesem Teil der Stadt. Der Malworkshop beginnt mit einer für sie konzipierten liebevollen Führung durch die Ausstellung mit Sara Biegler. Hier bekommen die Kinder alle Informationen, die sie brauchen, um das Besondere der Ausstellung einordnen zu können. Und sie sehen die Bilder, Gemälde, Objekte, die unter anderem die Wandgestaltung inspirierten. Danach erst bemalen sie die Wände. Eins der Kinder fragt schon während der Führung, wann sie nun die Wände bemalen. Es lohnt sich also auf jeden Fall, ein Blick nach oben in den Rotunden-Turm zu werfen, wenn man an der Schirn vorbeiläuft. Und ein Heraustreten auf den Rotundengang beim Besuch der Ausstellung.
Zu dieser Ausstellung gibt es sehr viele kleine Dinge, alle mit Wellen-Ornamenten bedruckt: einen Fächer, ein Lesezeichen, das Plakat. Auf dem Pressetisch findet sich ein Ständer mit Schirn-Bleistiften und einer bestimmten Sorte einfacher Kugelschreiber, mit denen man sehr schön schreiben kann. Eine Einladung zu einer sinnlichen Erfahrung. Das Papier in der Pressemappe ist Umweltpapier, das sich von Bleistift und Kugelschreiber auf eigene Art beschreiben lässt und bei mir Kindheitserinnerungen auslöst.
Anmerkungen
* Amazigh-Tradition:
Was bedeutet "amazigh"?
Einflüsse aus den Kulturen der indigenen Völker der Region werden in der Ausstellung als "afro-amazigh" zusammengefasst. Der Begriff "amazigh" ist eine Sammelbezeichnung für die indigenen Ethnien der nordafrikanischen Länder Algerien, Libyen, Mauretanien, Marokko und Tunesien, die sich sprachlich und kulturell von den arabisierten Mehrheitsgesellschaften unterscheiden. Er hat die abwertende, als rassistisch empfundene Fremdbezeichnung "Berber" abgelöst. Das Alphabet der Amazigh ist seit 2011 neben Arabisch Amtssprache in Marokko.
Quelle: https://www.hessenschau.de/kultur/casablanca-art-school-in-der-schirn-kunsthalle-frankfurt-eine-fast-vergessene-kunstbewegung-v2,casablanca-ausstellung-schirn-100.html
** Zeit der Unruhe:
Über die Internationale Kunstausstellung für Palästina
– , Haus der Kulturen der Welt, Berlin.
Zeit der Unruhe ist einer der Ausgangspunkte für die Konferenz A History of Limits. Zum Auftakt des Langzeitprojekts Kanon-Fragen hinterfragt sie die Fundamente der institutionellen Kanon-Bildung und entwirft die Kunst- und Kulturgeschichte neu als Geschichte des Aushandelns von Grenzen.
Zeit der Unruhe wird kuratiert von Kristine Khouri und Rasha Salti und wurde 2015 vom Museu d'Art Contemporani de Barcelona (MACBA) konzipiert und präsentiert. Die Berliner Ausstellung ist eine Produktion des Hauses der Kulturen der Welt und des MACBA. Recherche gefördert durch Rana Sadik und Samer Younis, Sharjah Art Foundation, Arab Fund for Arts and Culture (AFAC), ZedGrant, A.M. Qattan Foundation und Tensta konsthall.
Quelle: https://archiv.hkw.de/de/programm/projekte/2016/zeit_der_unruhe/zeit_der_unruhe_start.php
Informationen zur Ausstellung
Eine Ausstellung, organisiert von der Schirn Kunsthalle Frankfurt, Tate St Ives und der Sharjah Art Foundation.
Kurator*innen: Morad Montazami und Madeleine de Colnet (für Zamân Books & Curating) in Zusammenarbeit mit Esther Schlicht und Luise Leyer (Schirn Kunsthalle Frankfurt). Wissenschaftliche Mitarbeit: Fatima-Zahra Lakrissa und Maud Houssais.
Links
https://www.schirn.de/ausstellungen/2024/casablanca_art_school/
https://muralsartfrankfurt.de/galluswarte-blueht-auf.html
https://www.stadtkindfrankfurt.de/tag/thekra-jaziri/
Kirsten Kötter,